PROGNOSIS - The World As It Might Will Be
A Selection Of Collages




 

Der Durchbruch in den grauen Raum

„Seit der Mensch begonnen hat, zu atmen und sich zu ernähren, über die Entdeckung des Feuers bis hin
zu den atomaren und thermonuklearen Maschinen, hat er nichts anderes getan, als fröhlich Milliarden von Strukturen aufzulösen,
um sie auf einen Zustand zu reduzieren, in dem sie zur Integration nicht mehr geeignet sind.“
Claude Levi-Strauss

„…word falls…photo falls… break through in grey room…“
William S. Burroughs

Es scheint, dass der Mensch von Heute in seinem Alltag immer mehr Sinneseindrücke verarbeiten muss. Unser Gehirn verwendet derzeit allein für diese Leistung etwa 400 MB Speicherkapazität pro Sekunde – Tendenz steigend…
Wir „erleben“ immer beschleunigter; dafür aber eher oberflächlich, in kleinen, möglichst schnell verdaubaren Paketen. Ein behutsam aufgebauter Spannungsbogen oder ein komplexer Sinnzusammenhang erscheinen mittlerweile oftmals unerwünscht. „Fragmentierung“ scheint das Zauberwort der Stunde zu sein…

Tatsache ist jedenfalls, dass wer es möchte, sich einem regelrechten Dauerfeuer an einfachen, aber intensiven medialen Reizen aussetzen kann. Ganz egal, ob er diese Intensität dann im Griff behält oder ob sie ihn komplett überrollt und er danach eher desinformiert, verwirrt und abgestumpft zurückbleibt…
Was dabei die Rolle der elektronischen Massenmedien angeht, wissen wir noch gar nicht genau, ob sie den Prozess selbst aktiv beschleunigen aus einer Eigendynamik heraus - wie ein selbstreferentielles, chaotisches System- oder ob sie vielleicht nur die Arena bieten, für eine Phase immenser Beschleunigung menschlicher Kommunikation mit Hilfe maßloser Vernetzung durch digitale Elektronik. Ein neuronales „Global Warming“ – die permanente Gratwanderung zwischen Facebook-gestützter Schwarmintelligenz einerseits oder Twitter-verursachter Massenpanik andererseits…



In Reaktion -oder als Symptom- zu dieser individuellen Entwicklung befinden sich auch die großen, einheitlichen Denkmodelle und
Gesellschafts-Theorien der Menschheit auf dem Rückzug. Denn auch deren Versprechungen der großen Erklärungshilfe, des
Sicherheit-bietenden Gesamtzusammenhanges und der übergreifenden, dauerhaften Generallösung hinken dem steigenden Anspruch nach schnellen, flexiblen, improvisierten Zwischenlösungen hinterher. Einzig der Kapitalismus hält sich noch an der Front, denn seine Trumpfkarte scheint es zu sein, jeden einzelnen von uns als sinnliches oder soziales Wesen immer mehr „freistellen“ zu wollen; uns in kleine, leicht manipulierbare Splitter zu isolieren, um uns dann alle einzeln, intensiv und luxuriös versorgen zu können. Teile und herrsche - Individualität als Uniform…

Zugeschaut mit Gebaut
Für jeden einzelnen von uns gilt es also, den komplexen Gefahren der Fragmentierung entgegen zu treten. In einer Art Selbstschutzreaktion immer wieder die eigene, sinnliche „Kompetenz“ neu zu hinterfragen und weiter zu trainieren. Besser zu verstehen, wie man wahrnimmt, wie man manipuliert wird. Den Blick für das Einfache, Zentrale schärfen und bewahren; die Freude am Sperrigen, an dem, was sich dem ersten Blick noch entzieht. Vorsicht vor dem, was offensichtlich erscheint. Spielerischer Umgang mit allem, was einem im Einheitsbrei von offizieller Seite als längst schon geklärt und längst schon Schön vorgesetzt wird. Kein betreutes Zuschauen, sondern ganz private Kreativität, am besten handwerklich, ohne Unterstützung durch digitale Elektronik. Nach ganz eigenem Zeitverständnis. Und vor allem: komplett ohne auch nur den geringsten sinnvollen Beitrag zum Wohle der Allgemeinheit…

Von Merz bis April
Die Papiercollage entstand Anfang des letzten Jahrhunderts als künstlerisches Mittel, die Zerrissenheit des Einzelnen und die Auflösung der althergebrachten Gesellschaftsstrukturen -zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst- geradezu handgreiflich auszudrücken.
Damit ist die Collage selbst ein Kind der Moderne: sie ist schnell, billig, flexibel, massenhaft. Ihre Materialien sind eben nicht mehr kostbare Pigmente, geheimnisvolle Bindemittel und die in kontemplativer Ruhe ausgeführte Zeichnung eines genial Begabten. Sondern profane Produkte der Massenproduktion, Zeitungspapier, Knochenleim und spontanes, gewaltsames Entwenden irgendwelcher Bestandteile aus ihrem ursprünglichen –meist kommerziellen- Kontext. Ruhelos und unterwegs. Volatil, mobil, infantil. Absichtliche Missachtung oder gar Vergewaltigung der vom eigentlichen Urheber gewollten Ästhetik. Verstümmelung bis zur Kenntlichkeit, Verdichtung bis zur Groteske.



Man kann die Collage aber auch als langwieriges, akribisches, reflektiertes Mittel verwenden, wie es z.B. Hannah Höch gezeigt hat…mit dem Versuch,jenseits des Chaos ganz eigene Paradiese zu entwerfen…
Für den Kunstbetrieb hat die Collage noch eine schöne Metaebene parat: die Collage ist in der zeitgenössischen Kunst diskreditiert als jedermans Kunst. Jeder kann das „irgendwie“. Wer ist nicht schon mal im Schulunterricht von Kunstlehrern zu diesem Quatsch gezwungen worden. Collagen sind, weil meist kleinformatig, unhip für den Kunstmarkt. Also kaum Gefahr. Man hat seine Ruhe.

Spaltmaterial
Der Materialaufwand für Collagen ist minimal. Meine Schere verwandelt schlichtes Papier in wertvolles „Spaltmaterial" für künstlerische Zwecke. Billiger Klebestift verschmilzt es dann am Ende zu neuer Bedeutung. Der Rohstoff stammt aus den unterschiedlichsten Quellen: Werbeanzeigen und Fotos aus Illustrierten, Pressefotos, Reiseführer und Strickhefte der 50/60/70er Jahre; Illustrationen aus technischen Manuals und alten Naturkundebüchern; kleinformatige Reproduktionen klassischer Gemälde; Kaffee-Fahrten-Broschüren, Verpackungen, Möbelhauskataloge, Firmenbroschüren der Weltkonzerne. Ein Kaleidoskop von Epochen, Perspektiven, Posen, Klischees und Stilformen. Der Nachschub stammt vom Altpapier-Berg; vom Flohmarkt, aus Arztpraxen, dem nachbarlichen Briefkasten, der Gosse, den Lounges der Flughäfen…



Man muss auch loslassen können
Meine Collagen sind die von mir selbst betriebene, absichtliche Zerstückelung von Sinn und dessen anschließende Wiederverwendung für neue Bilder. Mir geht es dabei um den Prozess der Reflexion: Wo werde ich vom ersten Augenschein überfordert? Was entgeht mir beim ersten Blick? Was ist der eigentliche Schlüsselreiz bei einem Bild? Was nehme ich anscheinend unterbewusst auf? Für diese Reflexionen habe ich meine „Strategien der Distanzierung“ gefunden:

Als erste distanzschaffende Maßnahme dient die langanhaltende Lagerung. In meinem „Zwischenlager für spaltbares Material“ sammle ich cut ups, die bei mir irgendwann auf die eine oder andere Art einen Impuls ausgelöst haben. Jedes der Bruchstücke wird also nie „frisch“ verarbeitet, sondern zuerst zwischengelagert, damit es in aller Ruhe seine ursprüngliche "brisante Attraktivität“ abbauen kann. Dabei wird es Stück für Stück immer sorgfältiger zugeschnitten, freigestellt, zerlegt. Im Verlauf dieser Analyse zeigt sich oft sehr überraschend, dass der eigentliche Schlüsselreiz nur aus einem winzigen, anfangs vielleicht völlig unbemerkten Detail bestanden hat. Für die darauffolgende Synthese meiner Bilder setze ich nur solche freien, „abgekühlten“ Bruchstücke ein…



Als zweite distanzschaffende Maßnahme ermögliche ich es den Bruchstücken, sich in meinem Zwischenlager vollkommen zufällig mit den anderen zu vermischen. Ganze Sedimente von Kontext lagern sich ab. "Sinnlose" Welten entstehen. Ein ganzer Ozean von Bildern, in ständiger Bewegung. Bei dieser Vermischung im Archiv übernehmen anscheinend chaotische Ordnungsprinzipien die Herrschaft. Das Zwischenlager wird so zum Außenlager meines Bewusstseins. Die Sedimente ähneln anscheinend meinem Unterbewussten: eine Kollektion von Fragmenten, bereitgehalten für den nächsten Gefühlsausbruch…

Als dritte distanzschaffende Maßnahme wird die fertige Collage ihrerseits wieder in einen Kontext gebracht. In einer Klasse von Rahmen gleicher Größe, z.B. 32,5 x 32,5 cm werden die Collagen in einer Gruppenwirkung untersucht. Denn während die Collage selbst eine Art Befreiungsschlag war, bei dem komplette Freiheit herrschte, wird sie jetzt wieder untersucht bzw. einer neuen Betrachtungsweise ausgesetzt: mittels horizontaler und vertikaler Einteilung des quadratischen Gesamtformates werden Bildebenen und prägnante Bildausschnitte der Collage erforscht und ausbalanciert.
Die entstehenden Hintergrundfelder werden dann monochrom gefärbt. Dabei ist es interessant, die Spannung zwischen den Farbtönen aus der Collage aufzufangen und ebenfalls harmonisch auszubalancieren. Dabei zeigt sich oft überraschend, welche Bilddetails und Farbtöne in der Collage anfangs unerkannt und eigentlich wirklich dominant sind.

Ich kann nichts dafür
Viele Fotografien bestehen aus verschiedenen Bildebenen in unterschiedlicher Tiefenschärfe. Wenn ich diese verschiedenen Bildebenen aus ihrem Kontext herausschneide und an ihren unscharfen Rändern leicht beschneide, werden sie dadurch wieder etwas randschärfer. Der Offset-Druck der Massenpresse führt oft zu leichten Verschiebungen der Farbkonturen von Fotos. Durch das Herausschneiden werden die Farbkonturen wieder randschärfer. Indem ich also Details randscharf aus Fotografien freistelle und mit anderen randscharfen verbinde, bilden sie miteinander eine quasi kristalline Tiefenschärfe und sehr harten Farbkontrast.



Das widerspricht der sonst für fotografische Abbildungen mittlerweile antrainierten Sehgewohnheit der Betrachter und ähnelt mehr der Malerei, in der der Maler selbst über Tiefenschärfe und Farbkontrast entscheidet. Dass macht vielleicht ein gutes Stück der Faszination der Collagen aus - es entsteht ein ungewohntes Bild-Klima, das den Betrachter verführt, sich tiefer in das Bild zu versenken...

Beim Gestalten ist die Papiercollage meiner Meinung nach dem Ölgemälde oder auch der Computergrafik überlegen, weil ich sehr schnell und reversibel arbeiten kann. Über die Jahre hinweg ist mir meine alte Schere zum Pinsel-Ersatz geworden. Ich kenne ihr Verhalten genau, kann mit ihr sehr schnell freistellen, viel schneller als mit der Hand zu zeichnen oder einen Ausschnitt erst in einen Computer einzuscannen und dann mit der Maus freizustellen.
Ich kann die Ausschnitte drehen, verschieben, übereinanderlegen, schnell mit einander kombinieren und so testen ob eine Idee funktioniert. Der billige Kleber lässt sich noch für einige Minuten wieder lösen, so dass ich, sollte ich einmal in einer gestalterischen Sackgasse gelandet sein, vieles wieder rückgängig machen kann…

Draußen gibt’s nur Kännchen
Erst nach langwierigen, distanzschaffenden Lagerprozessen folgt die Synthese neuer Bilder. Manchmal kombiniere ich die Bruchstücke in freier Assoziation. Ich spiele also einfach mit dem Vorrat – wie Picasso schon sagte: "Ich suche nicht, ich finde". Auch dabei gibt es immer wieder überraschende Momente, wenn plötzlich zusammen passt, was eigentlich nicht zusammenpassen darf.



Manchmal versuche ich auch, konkrete Bildideen umzusetzen. Dann suche ich gezielt. Ich versuche also, aus den Bruchstücken wieder meine eigene, ganzheitliche Idylle zu erschaffen. Doch so einfach ist das nicht mehr. Meist geht etwas schief. Auf halbem Wege nach Arakadien gerät mir ein absurder Androide ins Bild oder das hübsche Modell im Kleid von Dior erwischt den Helm eines Bomberpiloten. Statt zarter Rosenblüten wiegen sich in meinem Garten Eden plötzlich Starkstromkabel.
Die Bildmotive oszillieren allesamt zwischen solchen paradoxen Zuständen: Faszination und Abneigung, Hochglanz und Beton, Erotik und Ekel, Mordlust und Mitleid, Reaktor und Idylle, Science-Fiction und Arkadien, Hysterie und Agonie. Verzweiflung und Gelächter. Hier tummeln sich meine Träume und Sehnsüchte, meine Kindheitserinnerungen, ironische Anspielungen, Reflexionen auf große Werke der bildenden Kunst und Literatur.
Meine Idyllen sind belagert von den Figuren und Szenarien des William S. Burroughs, den zersplitterten Psychen des Thomas Pynchon. Meine Bilder sind Simulacren von Gemälden und Klängen: der Portraits der Holbeins, der Bilderrätsel des Hieronymus Bosch; der unterkühlte, klinische Blick des Meredith Frampton; Mark Tanseys gemalte Chaostheorie, Francis Bacons Aufschreie. Die Collagen von John Heartfield, Hanna Höch und Max Ernst.



In ihnen schwingt auch das Groteske in der Musik der Residents, die Gesänge Außerirdischer der Chrome, die anorganische Romantik des John Foxx, die nostalgische Elektronik der Tuxedomoon, aber auch die klassizistische Strenge der Minimal Musik von Glass, Nyman, Mertens. Die Bilder spiegeln somit meine innere Zerrissenheit: Einerseits die Sehnsucht, eine neue Idylle zu erschaffen, andererseits mein Reflex, eine mir anscheinend immer absurder und unmenschlicher werdende Realität abzubilden....


Chronik:
Die Collagen stammen aus den Jahren 1984 bis heute.
Sie sind sämtlich aus Papier. Jedes Motiv ist ein Einzelexemplar.
Im Laufe der Jahre dienten viele als Illustrationen in Flyern, Fanzines, Plakaten und Literaturzeitschriften (DER LOVER, Schlicht).
1995 Einzelausstellung, Heart Gallery, Mannheim.
2003 Einige der Collagen verwendet im Film "Endzeit - Die Lust am Untergang" von Oliver Wittkowski (ARTE, 2003).
2004 Einzelausstellung in der Galerie Rebekka Kraft, München.
2007 Sammlerbox bei Edition Carmakarma, München.
2009 Projektion an der Fh Medienpädagogik, München.
2013 Eröffnung Atelier Rebekka Kraft

Last update: November 7th 2013

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